Neulich, im Rechenzentrum

Ja, ich weiß. Zuletzt ist hier im Blog nicht viel passiert (sorry!) und eine billige Methode, um etwas mehr Aktivität zu s(t)imulieren, ist die Wiederveröffentlichung alter Texte.

Genau das mache ich nun aber.

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Der Grund dafür liegt 20 (zwanzig!) Jahre zurück, und es ist die Publikation des ersten Textes, den ich über dieses Internet geschrieben habe. Im Herbst 1994 hatte mich ein gewisser Marx Marvellous ins Rechenzentrum der Gießener Justus-Liebig-Universität eingeladen, um mir oben am Heinrich-Buff-Ring in einem ziemlich menschenleeren Rechnerraum die seltsamen Praktiken des „Surfen“, „Mailen“ und „Chatten“ vorzustellen.

Was soll ich sagen – es war ein mehr als interessanter Nachmittag, mit unerwarteten Langzeitfolgen. Wenig später meldete ich Internet und Politik als Klausurthema für meine Magisterprüfung im Fach Politikwissenschaft an, im Frühjahr 1995 wurde daraus ein Exposé für eine Dissertation und im Sommer erhielt ich ein Stipendium der Hessischen Graduiertenförderung. Daraus wurde schließlich der Band Politische Projekte im Internet, erschienen 1999 im Campus Verlag.

Ach ja, eigentlich ging es aber doch um diesen alten Text für das in Gießen (okay, und in Marburg auch) weltberühmte Stadtmagazin Express. Passend zum Semesterstart erschien Virtuelle Kaffeekränzchen – Studententalk im Internet, und ich war sehr stolz darauf (Fun Fact: der damalige Ansprechpartner in der Gießener Geschäftsstelle steht heute einem nicht ganz unwichtigen Wochenmagazin in Hamburg vor).

Das Wiederlesen des Textes erzeugt ein bisweilen heftiges Schmunzeln – immerhin findet sich schon im dritten Absatz der Begriff Neuland. Auch die enorme Menge von Anführungszeichen sticht ins Auge – die allermeisten Fachbegriffe gehören inzwischen zum regulären Sprachschatz  und sind Duden-notiert. Völlig obskur wirkt im Rückblick der Absatz über Emoticons („Dem ungeübten Leser erschließt sich die Bedeutung erst, wenn er den Zeichen-Mischmasch um 90 Grad dreht und sich einen Kreis hinzudenkt.“).

Aber genug geredet, hier ist die kleine Ausgrabung der Zukunft. Viel Spaß!

Virtuelle Kaffeekränzchen – Studententalk im Internet

Marx Marvellous studiert in Gießen. Physik, 5. Semester. Letzte Woche traf er sich mit Charlie Parker, SpaceKelly und Zaphod B., um bei einem zünftigen „Chat“ Neues aus aller Welt zu erfahren. Seine Gesprächspartner aus Stockholm, Wien und Bordeaux versammelte „Marx“ jedoch nicht in der engen Studentenbude in Annerod, das exotische Quartett aus den europäischen Metropolen hielt sein virtuelles Kaffeekränzchen im Internet ab: Die vier „Netztouristen“ tummelten sich per Computer in einer elektronischen Konferenzschaltung.

Das Internet gilt als der weltweilt größte Verbund von Computer-Netzwerken, auf seinen verschlungenen Datenpfaden bewegen sich derzeit mehrere Millionen Benutzer. Das weltweite Telekommunikationsnetz stellt dabei die Verbindungen auf die Beine.

Das Gießener Eintrittstor zur virtuellen Computerwelt steht am Heinrich-Buff-Ring: Im Hochschulrechenzentrum (HRZ) können sich Studierende mit einer „student-mail“(s-mail)-Zulassung in die Informations-Tiefen des Internets stürzen. Die Vorlage von Personal- und Studentenausweis genügt: eine neue Netzwerk-Persönlichkeit ist geboren. Nach nur zwei Tagen erhält der Netz-Novize seine Kennung und darf die ersten Schritte im telekommunikativen Neuland wagen. Um sich im weitverzweigten Datendschungel einigermaßen zurechtzufinden, gibt das HRZ ordentlich Starthilfe. Info-Blätter zum Umgang mit Datennetzen, Software und vor allem der pfleglichen Konversation mit anderen Netzteilnehmern erleichtern die Orientierung im zuweilen hektisch bis chaotischen Internet-Gesprächsverkehr.

Auf den Datenexpeditionen können die „User“ auf diversen Kommunikationswegen wandeln. Einer der wichtigsten ist der elektronische Briefverkehr, das „e-mailing“. In der User-eigenen „mailbox“ landet die „e-mail“, elektronische Post, die jeder Teilnehmer verschicken und empfangen kann. Solche Briefe sind nichts anderes als einfache Texte, die sich an bestimmte Regeln, die sog. „Netiquette“ halten sollen. Oberstes Gebot der „e-mailer“: Fasse Dich kurz! Via electronic mail sind die User im Netz stets erreichbar. Marx Marvellous – Künstlernamen sind im Internet eher die Regel als die Ausnahme – weiß das zu schätzen: „Zu meiner Vordiploms-Fete habe ich die meisten Gäste über das Netz eingeladen, da wußte ich wenigstens, daß sie meine Nachricht erhalten.“

Passionierte „Netzwerker“ nutzen zwar die Vorteile des „e-mailing“, richtig „hip“ ist jedoch die Live-Kommunikation mit anderen Usern, die sich gerade ins Netz „eingelogged“ haben. Mit dem Kommando „talk“ entstehen direkte Dialoge: Der Bildschirm halbiert sich, die Texteingabe des Gesprächspartners wird sofort mitverfolgt. Dabei erfährt man Neues von Kommilitonen aus dem benachbarten Institut („Das Thema für meine Diplomarbeit ist leider abgelehnt worden“) oder hört den Usern der Gießener Partner-Uni in Curitiba/Brasilien zu: „Tetra means four-time-world-champion in soccer.“ Aha, Neuigkeiten gibt es also überall.

Wer davon nicht genug bekommen kann, sollte sich an elektronischen Konferenzen beteiligen. Hier zeigt sich die Vielschichtigkeit der Internet-Landschaft am besten. Mit den „Internet Relay Chats“ (IRC) wird die Zweisamkeit des Talks aufgehoben, in Konferenzen mit manchmal Dutzenden von Teilnehmern herrscht oft das Chaos. Um den Kommunikationsdrang der Teilnehmer in geordnete Bahnen zu leiten, gibt es themenbezogene Kanäle. Im IRC der FU Berlin kann man sich etwa über die heftigsten Computer-Desaster, die Fußball-Ergebnisse vom Wochenende oder die Leistung von Tom Hanks in „Forrest Gump“ unterhalten.

Mit der Ausbreitung des virtuellen Schriftverkehrs geht die Entwicklung einer neuen Art des Schreibens einher. Neben den gängigen Konventionen (kein ä, ö oder ü, generelle Kleinschreibung, etc.) etablieren sich Codes im Netz, die die bloße Vermittlung von Informationen ergänzen. Mit Hilfe der PC-Tastatur erstellen die Netz-Profis Zeichenkombinationen, die dem Text eine freudige, ironische oder mitfühlende Note verleihen können. Aus Doppelpunkt, Semikolon und einer Klammer entstehen verschiedene Varianten der bekannten „Smilies“: :) (Freude), ;) (Augenzwinkern), :( (Mitleid), =:) (Cyber-Punk). Dem ungeübten Leser erschließt sich die Bedeutung erst, wenn er den Zeichen-Mischmasch um 90 Grad dreht und sich einen Kreis hinzudenkt. Ganz optimistische Beobachter sehen in der virtuellen Kommunikation gar eine Renaissance der Briefkultur.

Das Internet dient natürlich nicht nur als Tummelplatz zur digitalen Völkerverständigung, der Zugang vor allem über die Universitäten deutet auf die wissenschaftliche Nutzung bereits hin. Das HRZ in Gießen ist über den Verein Deutsches Forschungsnetz an das Internet angeschlossen, so soll einem effektiven und schnellen Austausch von Daten aus Forschungsprojekten und universitärer Arbeit Vorschub geleistet werden. Die Entwicklung des Internet begleitet zum einen die unbegrenzte Euphorie der verkabelten User und andererseits die Skepsis jener Kritiker, die die Netzwerker vor ihren Rechnern verkümmern sehen. Solange ein Internet-Chat aber mit der Frage endet: „Sehen wir uns heute abend im Uhlenspiegel?“ ist die dunkle Vision vom PC-Junkie, der die eigenen vier Wände nicht mehr verläßt, nur Schwarzmalerei, oder? ;)

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