In eigener Sache: Utrecht

Man kann über die Unterschiede von Lego Mindstorms (open-minded, open source, die Lösung für viele gesellschaftliche Probleme) und Lego Bionicles (kommerzielles, kreativitätseindämmendes Anti-Lego) trefflich streiten – dass dies allerdings bei der Verteidigung einer Dissertationsschrift geschieht, ist dann doch eher ungewöhnlich. Wenn allerdings der „Promovendus“ Douglas Rushkoff heißt und eine Arbeit mit dem Titel „Monopoly Moneys. The Media Environment of Corporatism and the Player´s Way Out“ vorlegt, ist eine kurze Darlegung über die unterschiedlichen Ansätze nicht nur unterhaltsam, sondern sie erscheint auch absolut zwingend. (Inzwischen hat der „Promovendus“ einen kurzen Blogeintrag zur Verteidigung verfasst).

So geschehen am 25. Juni in der Universität Utrecht, im spektakulären Academiegebouw – ich hatte die Ehre, auf Einladung des Kollegen Mirko Schäfer als externer Gutachter und Kommentator an der Verteidigung teilzunehmen. Das war durchaus eine besondere Erfahrung, denn das Ritual der Promotion unterscheidet sich massiv von den Verfahren im deutschen Teil des Elfenbeinturms (beinahe so deutlich wie Mindstorm- und Bionicle-Lego). Es beginnt mit dem Setting im Repräsentativbau der Universität, auf LED-Anzeigetafeln werden die Verteidigungen des Tages angezeigt, die festlich gekleideten Menschenmengen erinnern eher an Hochzeitsgesellschaften – und das Prüfungsgremium („Conferral of the Board“) trägt Talar. Einheimische Professoren haben eine eigene Robe, die Gäste bekommen vom „Pedel“ (dem Pendant zum Gerichtsdiener) ein passendes Stück aus der universitären Kleiderkammer ausgehändigt. Im Besprechungszimmer (einer Art profan-wissenschaftlicher Sakristei) werden die Talare übergezogen, hinzu kommen eine Fliege inkl. Rüschenbund und ein passender Hut (Exemplare in sämtlichen Kopfgrößen liegen bereit).

Dann wird der Ablauf der „Defense“ besprochen – fünf Professoren befragen den Doktoratskandidaten, maximal je 9 Minuten Zeit gibt es für einen Minidiskurs entlang der „Proefschrift“. Es beginnt der- oder diejenige mit der weitesten Anreise: im hiesigen Fall Prof. Meira von der Universität Tampere (aufgrund dieses Reglements hatte ich den zweiten Frageplatz erhalten, was nicht unwichtig ist: die Dauer der Verteidigung ist auf exakt 45 Minuten angelegt). Die Gutachter des Kandidaten können dabei nur zuschauen, geleitet wird die Aussprache vom „Rector“ als Vorsitzenden des Verfahrens. Die Fragestunde findet im Senatssaal des Akademiegebäudes statt, die Prüfer halten – ähnlich den Richtern im Bundesverfassungsgericht – Einzug, während der Kandidat an einem ihm zugewiesenen Katheder wartet. Unterstützung erhält er dabei von den „Paranymphs“, zwei Assistenten, die in etwa die Rolle von Trauzeugen übernehmen: sie organisieren die Veranstaltungen rund um das Hauptereignis, etwa den Empfang im Anschluss oder das gemeinsame Abendessen mit dem Prüfungsgremium.

Nach Ablauf der festgelegten Prüfungszeit öffnet sich die Tür und herein tritt der „Beadle“, eine Art Zeremonienmeister (in diesem Fall eine Zeremonienmeisterin), und erklärt ohne Umschweife mit den Worten „Hora Est!“ das Verfahren für beendet. Nach dem Auszug der Prüfer (in Roben und mit Hut auf dem Kopf – während der Verteidigung und im Sitzen wird die Kopfbedeckung abgenommen) folgt die Aussprache in der Universitäts-Sakristei. Kommt das Gremium zu dem Schluss, dass der Kandidat ein würdiger Doktor ist, wird eine riesige Urkunde ausgefertigt (das Format liegt irgendwo zwischen DIN A2 und DIN A1), zusammengerollt und in einem zylindrischen Behältnis deponiert. Danach geht es zurück in den Senatssaal, wo der Kandidat noch immer wartet – genauso wie das Publikum: die Veranstaltung findet nämlich öffentlich statt und erinnert so eher an eine standesamtliche Hochzeit als ein akademisch-höfisches Ritual. Nach den kurzen formalen Worten des „Rector“, erklärt einer der Gutachter den „Promovendus“ formell zum Doktor, der (oder die) andere hält danach eine Laudatio. Im Falle Douglas Rushkoff handelte es sich um eine sehr persönliche Würdigung von Doktor und Werk, dabei wurde der allmähliche Wandel vom „journalistic author“ zum „scientist“ beschrieben. Schließlich erhält der Neu-Doktor das entscheidende Dokument aus den Händen seiner Betreuer. Beifall, Schluss und Abgang.

Man könnte sich nun über die seltsame Unzeitgemäßheit des Rituals belustigen (wer macht denn noch so ´was in Zeiten von Bologna, ECTS und Exzellenzwettrennen!) – wenn die Unterschiede zum überaus langweilig bürokratisierten deutschen Verfahren nicht so offenkundig wären. Denn das holländische Ritual ist trotz seiner samtigen Oberflächenhaftigkeit auch sehr funktional: so haben etwa die Betreuer der Dissertation während der Aussprache nichts zu melden, sie haben auch keine Kontrolle über die Fragen der internen und externen Vertreter. Das Prüfungsgremium wird zwar vorab per Mail über die wesentlichen Abläufe informiert, bleibt aber frei in seiner inhaltlichen Einschätzung der Arbeit. Sicher, die wenigsten werden in einem solchen Umfeld zur akademischen Blutgrätsche ansetzen, dennoch ist eine unabhängige Betrachtung und Diskussion der Leistungen gewährleistet. Erst im Nachgespräch kommen die Betreuer zu Wort, sie müssen dann die Gründe benennen, warum der „Promovendus“ denn zum Doktor gemacht werden soll. Im Falle Rushkoffs waren dies neben seinem außerordentlichen Gespür für Themen auch die gesellschaftliche bzw. politische Relevanz seiner Fragen, sowie die Fähigkeit, eine genuin wissenschaftliche Leistung über mehrere Jahre hinweg neben dem eigentlichen Broterwerb als Autor, Redner, Kolumninst, Dokumentarfilmer und „Graphic Novelist“ zu erbringen. (Eine inhaltliche Würdigung der Arbeit erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt an dieser – oder anderer – Stelle.)

Erkennbar wird so eine deutliche Arbeitsteilung im akademischen Auswahlprozess, die deutlich über das Procedere im deutschen Verfahren hinausgeht. In den stickigen Besprechungs- und Seminarräumen, die üblicherweise das Umfeld einer deutschen Doktorenkur abgeben, reden Doktorvater oder –mutter auf den Prüfling ein, der zuvor i.d.R. eine Inhaltsangabe seines Werkes gibt und einige Thesen seiner Arbeit darlegt. Eine „wissenschaftliche Widerrede“ findet kaum statt, zugleich ist es ein Verfahren nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit, meist auch der akademischen. Das Utrechter Modell setzt andere Akzente und verlagert einen großen Teil der Eignungsprüfung auf den mündlichen Disput zwischen „Opponent“ (so werden die Mitglieder der Prüfungsrunde angesprochen) und „Promovendus“. Auch wenn es sich bei dieser Debatte um eine (zumindest teilweise) choregrafierte Redesituation handelt, so wird den Kandidaten anderes abgefordert als in Deutschland: die anwesende Öffentlichkeit hat ein Recht auf eine verständliche Sprache, weshalb auch die Prüfer auf zu kleinteilige Fachdebatten verzichten. Stattdessen werden Anreize gesetzt, die den Kandidaten zum Improvisieren anregen sollen oder das konkrete innerfachliche Problem wird schon in der Frage dargelegt. Im besten Fall nimmt der „Promovendus“ dadurch Anregungen für eine erneute Auseinandersetzung mit seinem Stoff mit, die er produktiv in die weitere Arbeit einbringen kann.

Neue Forschungsfragen gab es dadurch zu Hauf: Gibt es neben dem von Rushkoff entfalteten Konzept der „Playability“ auch so etwas wie „Hackability“? Wie unterscheiden sich „eigensinniges“, „kooperatives“ und „nicht-kooperatives“ Handeln voneinander? Warum verzichtet eine Arbeit über „Monopolgeld“ bzw. „Geld-Monopole“ auf die Arbeiten von Karl Marx und Yochai Benkler? Ist Mark Zuckerberg ein Neo-Korporatist? Ist #occupy eine spielerische politische Bewegung? Kann Code eine politische Machtressource sein? Und was ist aus dem Technik-Determinismus von Marshall McLuhan geworden?

Beantwortet wurden die Fragen natürlich nicht – den Erfolg des Bionicle-Lego über die Mindstorm-Variante allerdings erklärte Douglas Rushkoff entlang der Hauptthese seiner Arbeit. Bislang habe sich noch immer die lineare Erzählweise einer kleinen gesellschaftlichen Elite durchgesetzt: „Jener Elite, die die Druckerpressen besaß, Unternehmen gründete, Fabriken unterhielt, Schulen gestaltete, Geld entwickelte und die Medien programmiert hat.“ Doch genau das könnte sich nun ändern: „Das menschliche Narrativ wird nicht länger erzählt, es wird geschrieben; das Leben wird nicht mehr gelebt, es kann programmiert werden. (…) Interaktive Medien versetzen nicht nur mehr Menschen in die Lage, an der Herstellung dieses Narrativs teilzuhaben, sondern eröffnen Chancen für neue Formen und neue Welten. Genau das kann passieren, wenn wir die scheinbar unbewegliche Landkarte von Marktdominanz und Unternehmensherrschaft als das Spielfeld erkennen, das es tatsächlich ist.“ (317f)

Literatur:

Rushkoff, Douglas (2012): Monopoly Moneys. The Media Environment of Corporatism and the Player´s Way Out. Proefschrift, Universiteit Utrecht.

Eine Antwort to “In eigener Sache: Utrecht”

  1. Weeknotes #4 | Zo-ii Says:

    […] (hints: there was talk about playability and Lego Mindstorms). Dr. Christoph Bieber wrote a great blogpost on the ceremony and also gives us clues on behind the scene happenings, here (in […]

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