Was sollen wir tun?

Der nachfolgende Text war die Grundlage meiner Antrittsvorlesung zur Johann Wilhelm WelkerStiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft am 26.10.2011 an der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen.

In formaler Hinsicht ist dies vermutlich der bisher am wenigsten „passende“ Beitrag in diesem Blog – allerdings schließt sich damit auch ein Kreis. Vor fast genau fünf Jahren wurde „Internet und Politik“ eingerichtet als Begleitangebot zur gleichnamigen Vorlesung im Wintersemester 2006/07 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seitdem haben viele sehr unterschiedliche Inhalte den Weg hierher gefunden – hier ist ein weiterer.

Was sollen wir tun?
Ethik als Instrument modernen Politikmanagements

Seit der globalen Finanzkrise – genauer gesagt: seit deren Debüt auf der ganz großen politischen Bühne im Jahr 2008 – ist der Begriff der Ethik erstaunlich populär geworden.

Zunächst dominierte das Entsetzen über das Ausmaß des Banken-Crashs, dann wurden neben Forderungen nach neuen Kontrollorganen und Sicherheitsregelungen schnell die Rufe nach einer neuen Wirtschaftsethik laut. Man ahnte wohl schon damals, dass allein durch politische Debatten, Stützkäufe maroder Papiere und ganzer Banken sich das globale Finanzsystem nicht substanziell ändern würde.

Der Verweis auf die ethische Dimension wirkt angesichts der grotesken Größenordnung der finanziellen Schäden seltsam machtlos – kann die Rückkehr zu Werten, ein tugendgeleitetes Innehalten und Abwägen, die Besinnung auf ein Berufsethos, das ein gutes, maßvolles Leben im Auge behält, in den Zeiten entfesselter Finanzmärkte tatsächlich etwas bewegen?

Man spricht seitdem von einem regelrechten Ethik-Boom: Business Schools haben Vortragsreihen und Studienprogramme eingerichtet, an vielen Orten sind neue Lehrstühle im Bereich „Ethik und Wirtschaft“ entstanden – so etwa in Köln, Mannheim oder München. Naturgemäß hat sich dadurch im Umfeld der akademischen Ausbildung der Wirtschafts- und Finanz„eliten“ noch nicht viel ändern können – nennenswerte Effekte dürften noch einige Jahre auf sich warten lassen. Trotzdem – vielleicht auch deshalb – besteht die Chance für eine gewisse Nachhaltigkeit, die inzwischen auch den Bereich der Politikwissenschaft erreicht hat.

Dazu haben auch verschiedene Krisenphänomene einen Beitrag geleistet, etwa die fast regelmäßig auftretenden Veruntreuungs- und Begünstigungsaffären (zum Beispiel in Großbritannien), Ämterpatronage und Dynastiebildung (in Argentinien oder Brasilien), oder der systematische Zugriff von corporate money auf politische Entscheidungsträger (etwa in den USA).

Angesichts dieses traurigen Standardkatalogs unethischen Verhaltens in der Politik muten die deutschen Beiträge zur jüngeren Debatte geradezu exotisch an: hierzulande ging es zuletzt um Wahrheit (zu Guttenberg und andere) oder Liebe (von Boetticher).

Ethik und Politikwissenschaft

Eine auf die handelnden Akteure zielende Ethik-Debatte übersieht jedoch zahlreiche Entwicklungen, die den Bereich der Politik durchdringen – das belegen entlang der drei klassischen Dimensionen policy, politics und polity zahlreiche Beispiele.

Auf der Ebene der Inhalte spielten ethische Konflikte etwa bei der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik eine Rolle. Die generelle Aufarbeitung von NS-Vergangenheit und Teilung, die Wahrnehmung der DDR als „Unrechtsstaat“ oder die Debatten um Erinnerungsorte und -kultur bilden längst nicht den einzigen Politikbereich, in dem ethische Fragen eine wichtige Rolle spielen.

Inzwischen sind – gewissermaßen am anderen Ende der Zeitachse – auch Umwelt- und Energiepolitik um eine ethische Dimension erweitert worden. Auch die Geld- und Finanzpolitik gehört in diese Reihe. Verbindendes Element ist hierbei die Rolle der Politik bei der Zukunftsausrichtung dieser Bereiche – die besonderen Aufgaben und Herausforderungen des Politikmanagements ergeben sich dabei aus dem Eingreifen in Phasen der Krise oder des Stillstands.

Damit kommen Ansätze der Gerechtigkeitsethik ins Spiel: Was müssen wir heute tun, damit unsere Nachkommen eine intakte Umwelt vorfinden, um ihre eigenen Lebensentwürfe verwirklichen zu können und nicht eingeengt von Knappheit und Selbstbeschränkung leben müssen?

Die Energiewende in der Black Box?

So abstrakt, normativ und gemeinwohlorientiert dies klingen mag, im aktuellen Politikmanagement sind diese Probleme und Perspektiven längst spürbar.

Die multiple Natur- und Technikkatastrophe von Fukushima hat zu einem politischen Entscheidungsprozess geführt, der wesentlich von der Arbeit einer „Ethikkommission Sichere Energieversorgung“ strukturiert wurde. Die Folge war schließlich ein Konsens über die „Energiewende“, die zum Ausstieg aus der Atomkraft führen soll.

Eine scheinbar technisch codierte Frage – welches sind die Energieressourcen der Zukunft – hat dadurch eine weiterreichende, gesamtgesellschaftliche Dimension erhalten, hat zu einer noch nicht buchhalterisch normierten Gewinn- und Verlustrechnung geführt.

Doch ist die politische Entscheidung tatsächlich aufgrund ethischer Fragen zustande gekommen? Oder handelte es sich hier lediglich um eine typische Form außerparlamentarischer Expertise zur Legitimation politischen Handelns?

Oder ist es am Anfang und Ende dieses Prozesses aus politischer Opportunität darum gegangen, unter Verweis auf ethische Dimensionen der zu entscheidenden Fragen politische Unangreifbarkeit zu realisieren?

Der Diskurs-Ethiker Matthias Kettner (Witten-Herdecke) hat den Untersuchungskatalog so genannter „Ethischer Beratungsorgane“ (EBOs) weit aufgefächert und unterscheidet zwischen vier Regelkomplexen:

Fragen zur Institutionalisierung der Kommission, der Organisation von Input, der Gestaltung von Deliberation und dem schließlichen Output setzen einen Rahmen zur Beschreibung und Bewertung solcher Verfahren. Innerhalb dieser „Regel-Matrix“ verfolgen Ethikkommissionen verschiedene Ziele, die wichtigsten sind aus der Perspektive des Politikmanagements die „Orientierung von Legislative und Exekutive durch Ethik-Politikberatung“ und die „Kultivierung von Debatten über politisch relevante Moralfragen in der staatsbürgerlichen Öffentlichkeit“.

Jenseits dieser Makroperspektive ist aus der Sicht des Politikmanagements zu fragen, inwiefern solche Regeln eingehalten und Ziele tatsächlich auch erfüllt werden. Mit Blick auf die „Ethikkommission Sichere Energieversorgung“ bleiben viele Fragen insbesondere zu Input und deliberativer Praxis der Kommission offen. Der Abschlussbericht skizziert bloß auf wenigen Seiten den „Output“ der Beratungen. Kettner betont zwar: „EBOs sind keine Black Boxes, bei denen man nicht weiß, was zwischen Input und Output passiert“ – allerdings provoziert die „Ethikkommission Sichere Energieversorgung“ genau diesen Verdacht.

Klimapolitik

In der Nachbarschaft zu Energiefragen bietet auch der Klimawandel Anschauungsmaterial. Innerhalb dieses Politikfeldes wurde seit mehreren Jahrzehnten auf der Basis naturwissenschaftlich-technischer Problemanalysen nur selten produktiv gearbeitet. Für manche Akteure gewinnt nun auch hier die ethische Dimension des – globalen – Deliberationsprozesses an Bedeutung.

Wenn sich der politische Handlungsdruck angesichts des Klimawandels also nicht objektiv „errechnen“ lässt (und es keine kurzfristig wirksamen „Klimakatastrophen“ gibt), vielleicht erlaubt dann ja die Konzeptualisierung des Klimas als erhaltenswertes Gemeingut die Vorbereitung „besserer“ Politik- und Regulierungsansätze.

Dale Jamieson, Philosoph und Umweltforscher an der New York University betont die Rolle ethischer Positionen und Perspektiven in der Debatte um den Klimawandel:

„The problem that we face is not a purely scientific problem that can be solved by the accumulation of scientific information. Science has alerted us to a problem, but the problem also concerns our values. It is about how we ought to live and how humans should relate to one another and to the rest of nature.“

In seiner Bewertung der Debatte um eine Politikformulierung angesichts von Erderwärmung und Klimawandel erteilt er technizistisch-ökonomischen „Management-Ansätzen“ eine Absage. Jamieson fügt er eine ethische Dimension hinzu und erinnert an Werte, Charakter und die Fähigkeit, durch individuelles Handeln Dinge verändern zu können – selbst wenn es viel Zeit braucht und die Effekte kaum spürbar sind:

„When we „economize“ our behaviour in the way that is required for calculating, we systematically neglegt the subtle and indirect effects of our actions, and for this reason we see individual action as inefficacious.“

Jamieson leitet hieraus eine wichtige Aufgabe für jede/n ab: es kommt darauf an, was man tut, ganz gleich ob daraus unmittelbare, sichtbare Effekte entstehen. Wir können also etwas tun.

Bernward Gesang, Autor des im Frühjahr erschienenen Bandes „Klimaethik“ und Professor für Wirtschaftsethik in Mannheim, sieht das ganz ähnlich:

„Die Erfahrung lehrt, dass wir uns aus vielen scheinbar aussichtslosen Situationen befreien konnten. Wir sollten uns hier nicht unterschätzen. Zumal das Problem weder technisch schwer zu lösen noch eine Lösung besonders teuer ist. Jeder Einzelne kann zu einer Lösung beitragen, insbesondere indem er oder sie politisch aktiv wird.“

(Institutionelle) Korruption

„Politisch aktiv werden“ – das nutze ich zum unvermittelten Übergang zur Ebene der politischen Prozesse.

Und auch hier findet sich Ethik längst nicht mehr nur als Spurenelement. Der bisherige Therapievorschlag zur Behandlung individuellen ethischen Fehlverhaltens war stets die Einsetzung von Kommissionen, die Verabschiedung von Standards oder Kodizes, eingebunden in Strukturen einer politischen Kultur, die eine Art Sicherungssystem darstellt.

In der internationalen Debatte hat sich dafür der Begriff der „Ethik-Infrastruktur“ herausgebildet, den Donald C. Menzel wiefolgt bestimmt:

“A well built ethics infrastructure would include politicians who are advocates and exemplars of ethical governance, an effective legal framework, accountability mechanisms, workable codes of conduct, education and training, and an active civic society.”

Nur leider zeigt sich mit Blick auf das Kaleidoskop von Skandalen und Verfehlungen, dass solche Selbstverpflichtungen nicht als bindend angesehen werden und es zunehmend schwieriger wird, auch in modernen Demokratien westlicher Prägung ein funktionierendes „Ethik-Management“ zu gewährleisten.

Ganz besonders herausgefordert werden Ethik-Infrastrukturen dabei von informellen und intransparenten Prozessen auf verschiedenen politischen Hinterbühnen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich dicht miteinander verwobene Netzwerke zwischen Politik, öffentlicher Verwaltung, Verbandswesen und Wirtschaft ausgebildet, die unethisches Verhalten ent-personalisieren und in manchen Fällen schon als Systembestandteil gelten können.

Im Falle der USA hat der Jurist Lawrence Lessig – der seit 2009 das Safra Center for Ethics an der Harvard University leitet – eine dauerhafte Orientierung des politischen Systems an der Ressource Geld festgestellt, die individuell „im guten Glauben“ stattfindet, aber ganz besonderen Schaden anrichten kann:

„A harm caused by a kind of corruption. But not the corruption engendered by evil souls. Indeed, strange as this might sound, a corruption crafted by good souls. By decent men. And women.“

Die „anständigen Männer und Frauen“, von denen Lessig spricht, sind die Angehörigen des Kongresses. Die wachsende finanzielle Abhängigkeit des politischen Systems als „Normalfall“ nennt er „institutionelle Korruption“ – in deren Folge sich das Wesen staatlicher Organisation verliert.

„Republic, Lost“ lautet demgemäß der Titel seiner aktuellen Studie zum verkommenen Zustand der amerikanischen Demokratie. Ethik-Standards als Maximen, die ein individuelles Handeln lenken und leiten sollen, stehen gegen die Netzwerkstrukturen institutioneller Korruption von vornherein auf verlorenem Posten.

„The great threat to our republic today comes not from the hidden bribery of the Gilded Age, when cash was secreted among members of Congress to buy privilege and secure wealth. The great threat today is instead in plain sight. It is the economy of influence now transparent to all, which has normalized a process that draws our democracy away from the will of the people.“

Genau an dieser Stelle liegt aus meiner Perspektive ein selten beachteter Grund für die Wucht der „occupy“-Proteste in den USA: sie richten sich in erster Linie zwar gegen das aus den Fugen geratene Banken- und Finanzsystem, in der Phase des Vorwahlkampfs gerät aber auch die Rolle des Geldes in der Politik immer wieder in den Blick.

Den Präsidentschaftskandidaten wird vor allem die Fähigkeit abverlangt, Geld einzuwerben, um sich in einem monatelangen Ausleseprozess behaupten zu können – das ist die „verlorene Republik“, von der Lawrence Lessig spricht. „Occupy Wall Street“ meint in den USA oft eben auch „Occupy K Street“ – den Straßenzug der Berater und Lobbyisten in Washington.

Wikileaks, Guttenplag und „Sousveillance“

Die bisherigen Beispiele und gerade auch die aktuellen Protestaktivitäten nicht mehr allein in den USA zeigen jedoch auch, dass man durchaus etwas tun kann, um Diskussionen in Gang zu bringen und Dinge zu verändern. In nicht wenigen Fällen spielt dabei die aktive Nutzung digitaler Medien eine wichtige Rolle.

In Zeiten immer größerer Vernetzung und Intransparenz scheint die Herstellung von Transparenz und eine gemeinschaftliche Kontrolle „von unten“ durchaus geeignet, das politische Personal auf ein ethisches Handeln zu verpflichten. Hierzu braucht es jedoch meist den Zugriff auf Informationen über die Geschehnisse innerhalb und zwischen politischen Institutionen und Akteursnetzwerken – mit anderen Worten: benötigt werden sensible Daten, die immer öfter durch Lecks verfügbar gemacht werden.

Der schillernde Begriff des Lecks ließe sich hier noch ausführlicher behandeln – allerdings habe ich das bereits in der Probevorlesung getan. An dieser Stelle vielleicht nur der Hinweis auf den besonderen Charakter solcher „Undichtigkeiten“ – sie stehen nicht außerhalb des Systems oder einer Institution, sie sind ein Teil davon. Lecks können Schaden anrichten, bieten aber auch die Möglichkeit zur Besserung, im Extremfall bis hin zu einer Art „Immunisierung“ gegen Fehlverhalten.

Im globalen Maßstab führt WikiLeaks diese Bewegung an. Die radikalen Maßnahmen dieses Transparenz-Akteurs bedürfen selbst einer stärkeren Hinterfragung – einer „Ethik des Lecks“, die klar abwägt zwischen dem Schaden einzelner und dem vermuteten gesellschaftlichen Nutzen durch Informationsweitergabe. Die besondere Konstruktion digitaler Öffentlichkeiten kann einzelnen Personen und kleinen Gruppen dabei große Handlungsspielräume eröffnen – dadurch wächst jedoch auch die Verantwortung für diese neuen „Transparenz-Akteure“.

Auf Deutschland bezogen zeigen Plattformen wie „Guttenplag“ oder „Vroniplag“, dass „Sousveillance“ – die „Überwachung von unten“ – ein besseres Mittel zur Gewährleistung „guter Praxis“ sein kann, als die abstrakte Setzung eines Regelsystems durch zentrale, aber zunehmend wirkungslose Steuerungsinstanzen. Die Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur „Guten Wissenschaftlichen Praxis“ gibt es seit 1999 – als ein funktionierender Ethik-Kodex hat sie in den vergangenen Jahren ganz offensichtlich nicht gewirkt. Für die Zukunft gilt es, die „Abschreckungseffekte“, aber auch die konstruktiven Ansätze der Plagiatsaffären in geordnete Bahnen zu lenken und so neue Orientierungshilfen zu entwickeln.

Über das Wesen des Staatstrojaners

Die Praxis der „Unterwachung“ und die Transparenz-Bewegung beruhen auf der Verfügbarkeit und der Nutzung digitaler, interaktiver Medien – hier liegen zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Arbeit im Rahmen der Stiftungsprofessur. Bei meiner wissenschaftlichen „Vorgeschichte“ liegt diese Verbindung zwar nahe, aber eigentlich wollte ich sie aus dieser Antrittsvorlesung weitestgehend heraus halten – doch das ist seit einigen Tagen unmöglich geworden.

Denn die aktuelle Diskussion um den so genannten „Staatstrojaner“ ist ein zu großes Alarmsignal, das zumindest kurz angesprochen werden muss – allein schon der Begriff klingt verlockend für eine Betrachtung, er führt den Staat umstandslos zusammen mit kriegerischem Betrug.

Es ist geradezu erschreckend, wie viele Fragen diese „Affäre“ aufwirft. Da ist die ganz praktische Dimension im Umgang mit Daten – wie sicher ist die „Lagerung“ digitalen Materials in Behördenhand? („Leck“ ist hier das Stichwort.) Wie ist die Kooperation von Behörden mit privatwirtschaftlichen Akteuren zu beurteilen? Was soll man von einer Umleitung „bundestrojanisch“ erhobener Daten über US-amerikanische Server halten?

Letztlich geht die Debatte aber viel weiter und rührt an Grundfragen und Grundlagen der Demokratie, denn hier steht die Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit auf dem Prüfstand. Bislang haben die politischen Akteure vor allem kommerziellen Anbietern wie Google oder Facebook die Missachtung von Datenschutzgrundsätzen und ein zu großes Interesse an persönlichen Daten vorgeworfen.

Was bedeuten vor diesem Hintergrund nun die Fähigkeiten einer staatlichen Spionagesoftware, die gegen die Bürger eingesetzt und nach Gebrauch wieder beseitigt werden kann? Ist die Aufzeichnung von Tastatureingaben kein Eingriff in die Privatsphäre? Was ist von Bildschirmfotos zu halten, die unbemerkt während der Rechnernutzung angefertigt werden? Was vom ferngesteuerten Anschalten der Kamera? Und schließlich: Was ist „wahr“, was ist „echt“, wenn Dateien auf der Festplatte deponiert werden?

Frank Schirrmacher hat in seinem ersten Kommentar zum Staatstrojaner den oben genannten Lawrence Lessig zitiert: der „Code“, also die Programmbausteine der Überwachungs-Software, „ist Gesetz“. Für die Perspektive der Stiftungsprofessur ist zu ergänzen, wie es sich mit der „Ethik des Codes“ verhält.

Was aber bedeutet das? Zunächst einmal heißt es, dass neue Fragen gestellt werden müssen: Wie ist innerhalb von Rechenoperationen eine Variable „Ethik“ zu definieren? Können Algorithmen eine solche Funktion zur Prüfung oder Intervention in digitale Abläufe integrieren? Sind solche Operationen ohne Mensch-Maschine-Schnittstelle denkbar? Bislang denken nur wenige in diese Richtung, Douglas Rushkoff ist einer von ihnen – sein Buch trägt den Titel „Program, or be programmed. Ten Commands for a Digital Age“. Doch das ist eine andere Vorlesung.

Noch ist es für eine zuverlässige Bewertung zu früh, doch die politische Dimension der Trojaner-Debatte zeichnet sich bereits jetzt ab. Nicht allein der tatsächliche Einsatz solcher Überwachungstechnologien wird sich auf das Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Bürger auswirken. Die unsichere, uninformierte Diskussion durch Entscheidungsträger zeugt von einer Ratlosigkeit der Politik, die schlechte Entscheidungen zur Folge hat, die in ethisch mehr als fragwürdiger Behördentätigkeit münden.

Die konkreteren Folgen davon kündigen sich mit Blick auf die Aufmerksamkeitserfolge der Piratenpartei an – die Fragen der öffentlichen und privaten Mediennutzung gehen immer häufiger über die Tagesaktualität hinaus. Wenn sie tatsächlich zu einem neuen cleavage werden, dann könnten die Folgen für die politische Landschaft erheblich sein.

Für die Parteienlandschaft sind sie es jetzt schon.

Ethik und Transparenz

An dieser Stelle ist der Weg zur polity-Dimension von Politik nicht weit – die Verfasstheit politischer Systeme bietet ebenfalls Ansatzpunkte für die Frage nach dem Stellenwert der Ethik für politikwissenschaftliche Auseinandersetzungen.

Wenn ein funktionierendes Ethik-Management tatsächlich zu einer wichtigen Leistung innerhalb politischer Systeme wird, um Glaubwürdigkeit, Verantwortlichkeit und vielleicht sogar Legitimation und Nachhaltigkeit politischer Entscheidungen herzustellen, dann muss der ethischen Dimension politischer Systeme grundsätzlich größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Der Begriff der Transparenz könnte hier zu einem ganz zentralen Ansatzpunkt in einer gesellschaftlichen Debatte um den Stellenwert der Ethik im Bereich der Politik werden.

Entlang dieses Begriffs laufen zahlreiche Fäden der neuen Diskussion um eine Ethisierung der Politik und der Politikwissenschaft zusammen – die Nachverfolgung und Prüfung dieser Verbindungen sowie deren weitere Entwicklung bilden einen Schwerpunkt für die Arbeit der Stiftungsprofessur.

Die thematischen Anknüpfungspunkte sind breit gestreut: von den sich häufenden Skandalen, über Korruption und Ämterpatronage zu Energie-, Umwelt- und Klimafragen sowie den aktuellen Phänomenen der Medienwelt inklusive einer Ethik des Codes.

Nicht alle dieser Themen werden ausreichend untersucht und erst recht nicht alle Fragen werden beantwortet können. Was also sollen wir tun?

Fragen stellen, zum Nachdenken anregen und in den öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs einordnen – das ist die eine Aufgabe der Welker-Stiftungsprofessur. Die andere ist, in der Ausbildung der Studierenden, mittels öffentlicher Veranstaltungen aber auch außerhalb des Elfenbeinturms, auf konkrete Ethik-Debatten hinzuweisen und bisweilen darauf einzuwirken.

Hierzu planen wir die Einrichtung einer Art „Ethik-Labor“, das an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit arbeitet – die Rahmenbedingungen hierzu sind an der NRW School of Governance hervorragend, denn das Selbstverständnis dieser Professional School zielt auf die Verbindung von universitärer, forschungsnaher Ausbildung mit Erfahrungen in der Praxis.

Die Frage aus dem Titel der Antrittsvorlesung ist also ernst zu nehmen: „Was sollen wir tun?“ betrifft nicht nur ein abstraktes gesellschaftliches „Wir“, sondern es zielt ebenso auf „uns Wissenschaftler“ oder auf ein politisches „Wir“ in Gestalt einer Regierung. Doch natürlich gilt diese Frage auch für die Bürger, ganz gleich ob in ihrer Gestalt als destruktive „Wut-“ oder als konstruktive „Mutbürger“.

Das „Tun“ hat also noch immer Konjunktur. Ethik kann hier als Mobilisierungsressource verstanden werden, die immer häufiger als sichtbare Begleitung verschiedener politischer Handlungen fungiert. Aus politikwissenschaftlicher Sicht kommt der Ausgestaltung einer solchen „ethischen Eskortierung“ politischer Prozesse eine große Bedeutung zu.

Denn sämtliche Beispiele und Überlegungen konvergieren in einer zentralen Fragestellung, mit der sich die Politikwissenschaft in der nächsten Zeit intensiv auseinandersetzen muss: wird Ethik als ein legitimes Mittel politischen Managements zur Vorbereitung und Herstellung „guter Entscheidungen“ eingesetzt oder droht die Gefahr, dass Ethik im politischen Prozess zum reinen Machtinstrument des handelnden Personals verkommt?

Die in vielen Zusammenhängen zu beobachtende „Ethisierung der Politik“ ist demnach längst nicht per se ein Zeichen für eine wertgebundene, wohlbedachte, vernünftige Erweiterung politischer Kommunikations-, Organisations- und Entscheidungsprozesse – damit verbunden sein kann ebenso gut die Wahrnehmung ethischer Perspektiven als Ressource im politischen Konkurrenzkampf.

Plakativ verkürzt könnte die zentrale Frage für den ethischen Gehalt politischer Verfahren und Entscheidungsprozesse demnach lauten: Welche Ressource soll erschlossen werden – Vernunft oder Macht?

Literaturangaben:

Gesang, Bernward (2011): Klimatehik. Frankfurt.

Jamieson, Dale (2010): Ethics, Public Policy, and Global Warming. In: Gardiner, Stephen M./Caney, Simon/ders./Shue, Henry (H.): Climate Ethics. Essential Readings. Oxford. S. 77-86.

Lessig, Lawrence (2011): Republic, Lost. How Money Corrupts Congress and a Plan to Stop It. New York.

Menzel, Donald C. (2007): Ethics Management Internationally. In: Sampford, Charles/Connors, Carmel: Conference Proceedings: Leadership, Ethics and Integrity in Public Life. S. 255.

Eine Antwort to “Was sollen wir tun?”

  1. RSS-Reader-Roundup | 7. November 2011 | Bastian Dietz Says:

    […] Was sollen wir tun? […]

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