Ein neues Kommentariat?

Die raue Industriekulisse der Kölner Vulkanhalle war Schauplatz der Fernsehdebatte im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf zwischen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und seiner Kontrahentin Hannelore Kraft (SPD). Gesellschaft leisteten den Spitzenkandidaten dabei jedoch nur Jörg Schönenborn und Gabi Ludwig, die sich als Moderatoren weitestgehend angenehm zurück hielten, so dass bisweilen die Atmosphäre eines Zwiegesprächs aufkam. Die rötlich schimmernden Backsteinwände boten zwar einen schönen Bildschirmhintergrund, dass die Halle jedoch leer blieb, ist vermutlich den Vereinbarungen zwischen dem übertragenden WDR und den Unterhändlern der Parteien geschuldet – ein Studiopublikum, das für ein etwas lebendigeres Ambiente gesorgt hätte, war jedenfalls nicht zugelassen – spontane Kommentare blieben den Onlinern bei Facebook und Twitter vorbehalten.

In unrühmlicher deutscher „Duell-Tradition“ sind keine Details über die Vorbereitungen und Vereinbarungen an die Öffentlichkeit gedrungen, hartnäckig unterliegt das herausragende Einzelereignis des Wahlkampfs einer exklusiven Geheimniskrämerei von Medien und Politik. Neben einer Offenlegung der Regeln und Formatierungen ließ die NRW-Debatte des Jahres 2010 auch eine umfangreiche Vorberichterstattung vermissen, trotz des vermutlich knappen Wahlausganges spielte die Auseinandersetzung in den regionalen Printmedien keine hervor gehobene Rolle. Insofern verwundert es nicht, dass die Reichweite nur mittelmäßig ausgefallen ist – eine Einschaltquote von nur 2,7 Prozent ist zwar solide, für ein so prominentes Ereignis allerdings eher enttäuschend. Gerade einmal 860.000 Zuschauer haben das Duell im mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesland verfolgt.

Durch die zeitliche Begrenzung auf 60 Minuten entwickelte sich ein eiliger Schlagabtausch, bei dem die vermeintlich großen Wahlkampfthemen Arbeit, Bildung und Soziales den inhaltlichen Rahmen stecken sollten – potenzielle Streitthemen wie Energiepolitik oder die heiklen Sponsoring-Vorwürfe gegen die CDU blieben jedoch außen vor. Die gegenüber dem journalistisch verunglückten „Kanzlerduell“ im vergangenen Jahr deutlich zurück genommene Moderation ermöglichte den Spitzenkandidaten eine sachliche Auseinandersetzung, Ludwig und Schönenborn verzichteten auf Spitzfindigkeiten und persönliche Petitessen. Bis auf wenige Ausnahmen waren Rüttgers und Kraft um gut verständliche Aussagen zu den Kernthemen bemüht, lediglich bei der Größenordnung der Schuljahrgänge brach kurzzeitig eine Zahlenlawine auf die Zuschauer ein. In den nicht wenigen reaction shots wirkte der manchmal etwas ziellos in die leere Halle blickende Jürgen Rüttgers ein wenig verloren, den direkten Augenkontakt mit Hannelore Kraft suchte er nicht. Die SPD-Kandidatin wirkte insgesamt „passender“ im Duell-Umfeld, ohne daraus allerdings größere Vorteile ziehen zu können. Am Ende der Redestunde hatte offenbar niemand auf eine direkte Wähleransprache verzichten wollen – und so schalteten beide Politiker zum Schluss in den über-akzentuierten Singsang durchproduzierter Wahlspots um. Die Diskrepanz zwischen durchaus authentischer Auseinandersetzung und gekünsteltem Schönsprechen sorgte für einen unschönen Ausklang der Debatte.

Nach der Sendung wechselte der WDR direkt ins normale Abendprogramm, eine „Nachbereitung“ fand nicht statt, ebensowenig fehlten Instant-Umfragen zu Performance und Einschätzung der Teilnehmer. Damit war der Weg frei für Kommentierungen und Bewertungen im Internet, das anders als bei der Bundestagswahl im Herbst nicht von der Fernsehdebatte abgekoppelt war. Der WDR lieferte einen stabilen Livestream und die ARD bot als zusätzlichen Feedback-Kanal eine Kommentierung via Facebook an. Aktiv beworben wurden diese medienübergreifenden Formate allerdings nicht, ebenso blieb es aktiven Onlinern vorbehalten, sich die diversen Begleitangebote wie den Live-Ticker von derwesten.de oder das Transkript der nordrhein-westfälischen Grünen zu einem Multimedia-Mosaik zusammenzusetzen.

Neben solchen von politischen und medialen Akteuren gestalteten Einrahmungen des Fernsehformates bot auch die Kurzkommunikation via Twitter eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung von Zuschauern während und nach der Debatte. An dieser Stelle setzte ein kleines Feedback-Experiment an: in Zusammenarbeit mit dem Gießener Zentrum für Medien und Interaktivität und der NRW School of Governance in Duisburg hat Thomas Pfeiffer von webevangelisten.de eine automatisierte Speicherung debattenbezogener Tweets vorgenommen. Dabei wurden im Zeitraum zwischen 20 und 22 Uhr insgesamt 1886 Twitter-Mitteilungen aufgezeichnet, die von 542 unterschiedlichen Nutzern versendet worden waren. Der Debattenbezug wurde durch die Verwendung einer Reihe vorab ausgewählter Hashtags hergestellt (#nrw, #duell, #tvduell, #rüttgers, #ruettgers, #kraft, #spd, #cdu, #wdr, #ltw10). Auf diese Weise kann zwar keine „Vollerhebung“ durchgeführt werden, doch werden hierdurch zumindest die Beiträge von aktiv und offen kommentierenden Twitterern erfasst.

Im Verlauf der Debatte kristallisierten sich dabei dominante Begriffe heraus, die nach etwa einer 45 Minuten Laufzeit den bis dahin in Deutschland meistverwendeten Hashtag #hsv von der Spitze diverser Twitter-Charts (dwitter.de, twicker.net, twitter-trends.de) verdrängen konnten. Am Ende der einstündigen Debatte schließlich hatten sich mit #ltw10, #tvduell und #cdu drei Begriffe aus dem Duell-Umfeld gleich in mehreren Top 5 fest gesetzt. Ein Abtragen der begrifflich selektierten Tweets entlang einer Zeitachse ergibt schließlich eine Grafik, die die Kommentare in den Duell-Verlauf einreiht.

Sichtbar ist hier zunächst nur eine Verteilung der Reaktionshäufigkeit, gewissermaßen ein „Intensitätsmuster“ der Debatte. Weitere Datenbankabfragen können nun z.B. Parteinamen, einzelnen Themen („Bildungspolitik“) oder Schlüsselwörtern („Schulkrieg“, „Extremisten“) gelten. Allmählich sollten sich so Duellverlauf und die jeweilige Intensität der Twitter-Reaktionen miteinander in Verbindung lassen. Die am häufigsten in den Tweets verwendeten Wörter geben indes noch keinen Aufschluss über die Inhalte bzw. die „Richtung“ einzelner Meinungsäußerungen – in der Tabelle der Worthäufigkeiten finden sich neben den Duell-Hashtags, Partei- und Kandidatennamen vor allen Dingen Füllwörter wie „jetzt“, „nicht“, „für“, „auch“ usw.

Allerdings entsteht beim Blick auf das Datenmaterial auch ein Eindruck davon, ab welcher Größenordnung in der deutschen Twitterlandschaft ein „Trend-Thema“ entsteht. In internationaler Perspektive wird dagegen vor allem die geringe Reichweite von Twitter hierzulande deutlich. Während der ersten beiden Debatten vor der Unterhauswahl in Großbritannien hatte der Dienstleister Tweetminster 180.00 bzw. 140.000 Mitteilungen ausgewertet. Selbst wenn man die unterschiedliche Bedeutung der Wahlen und die höheren Sendereichweiten der TV-Übertragung in Betracht zieht (die Duelle hatten 9,4 bzw. 4,1 Millionen Zuschauer in Privat- und Digital-TV), so fällt die Summe der Twitter-Nachrichten vom Montag deutlich ab.

Aus diesen Zahlen eine generelle Twitter-Müdigkeit in Deutschland ableiten zu wollen, wäre jedoch verfrüht – die Debatte hat auch als TV-Format keine herausragende Bedeutung erhalten, eine schwächere „Abstrahlung“ in Richtung Internet war die Folge. Ebenso machte sich hier die fehlende „Debatte-vor-der-Debatte“ bemerkbar, die etwa bei der Herausbildung konsistenter Hashtags und einer generellen Verbreitung des Wahlkampfereignisses geholfen hätte.

In weiteren Schritten kann der entstandene Datenkorpus nun einer inhaltsorientierten Untersuchung zugeführt werden: so sind quantitative Inhaltsanalysen der gesammelten Twitter-Mitteilungen ebenso denkbar wie ein näherer Blick auf die Struktur der Begleitkommunikation. Die Informationen aus den Twitter-Profilen können Hinweise zur geografischen Verteilung dieses neuen „Kommentariats“ liefern, außerdem lassen sich durch die Untersuchung von Retweet-Vorgängen auch „Meinungsführerschaften“ ermitteln. Spannend ist hier auch die Frage nach den Effekten der Twitter-Kommunikation politischer Akteure, denn die in Nordrhein-Westfalen aktiven Kampagnen-Teams waren ebenfalls am Start und haben Twitter als Werkzeug für rapid response-Kommunikation genutzt.

Noch steht diese Form einer internet-basierten real-time-response-Messung für TV-Übertragungen ganz am Anfang. Es wird sich zeigen, ob durch Wiederholung und Verfeinerung aus dem noch recht groben Analyseverfahren tatsächlich ein wirksames Instrument zur Untersuchung von Multimedienereignissen entwickelt werden kann. Wir arbeiten daran.

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