Hamburg wählt (nicht digital)

Bildleiste via dotvote.de

Eigentlich hatte die Stadt Hamburg die (analoge) Modernisierung des Wahlrechts auch gleichzeitig zu einer digitalen Modernisierung der Stimmabgabe zu nutzen: ein elektronischer Wahlstift sollte eingesetzt werden, um die Zählung des erhöhten Stimmaufkommens zu erleichtern und zu beschleunigen.

Um das neuartige Wahlgerät einem ersten Praxistest von Akzeptanz und Handhabbarkeit zu unterziehen, wurde die Bundestagswahl 2005 für eine Pilotstudie genutzt. Hier wurde in zwei Hamburger Wahlbezirken mit insgesamt 1.998 Wahlberechtigten mit dem digitalen Wahlstift gewählt. Auf die – positive – Studie folgte der Entschluss, das digitale Wahlstiftsystem zu kaufen und bei der Bürgerschaftswahl und den Bezirksversammlungswahlen im Februar 2008 flächendeckend einzusetzen.

Doch daraus wurde leider nichts, denn „die Fraktionen der Hamburgischen Bürgerschaft haben sich im November 2007, wenige Wochen vor den Wahlen, jedoch überraschend dafür entschieden, den Digitalen Wahlstift doch nicht einzusetzen.“

(Mitarbeit: Christopher Harth)

Dies meldet nüchtern die Website der Behörde des Innern auf den Info-Seiten zum „Digitalen Wahlstiftsystem“. Der ablehnende Beschluss der Bürgerschaft sorgte nur vereinzelt für ein größeres Echo in den so genannten Massenmedien (Berichte der SZ, SpOn), blieb jedoch kein dauerhaftes Thema und taucht auch in den Tagen unmittelbar vor der Wahl nicht mehr in der breiten Medienöffentlichkeit auf.

Gar so „überraschend“ kam die Entscheidung allerdings nicht, denn im vergangenen Herbst waren im Umfeld der so genannten „Schnupperwahlen“ (Video), die den Wählerinnen und Wählern einen Eindruck der neuen Wahltechnologie vermitteln sollten, immer wieder Fragen aufgeworfen worden – insbesondere von Vertretern aus den Reihen des Chaos Computer Club. In bewährter Manier widmeten sich die technikaffinen Wahlgeräte-Kritiker dem Versuch, die Anfälligkeit und Manipulierbarkeit des Wahlstift-Systems unter Beweis zu stellen.

In der zugegebenermaßen nicht ganz unvoreingenommen Mitteilung der Landeswahlleitung werden die Ereignisse zusammengefasst: „Ende September 2007 war der Digitale Wahlstift plötzlich Thema in allen Hamburger Medien. Die Fraktion der Grünen/GAL in der Hamburgischen Bürgerschaft hat gemeinsam mit dem Chaos Computer Club, der grundsätzlich gegen technische Unterstützung in Wahllokalen ist, in zwei Pressekonferenzen öffentlichkeitswirksam behauptet, das Digitale Wahlstift-System sei manipulierbar. Bis heute ist es bei Behauptungen geblieben, ein Beweis wurde nie erbracht, im Gegenteil, die konkreten Behauptungen einer Manipulierbarkeit konnten widerlegt werden. Trotzdem haben sich die Fraktionen der Bürgerschaft gegen einen Einsatz des Wahlstiftes noch bei der Hamburg – Wahl 2008 ausgesprochen.“

Durchaus starker Tobak: allein aufgrund von Behauptungen wird also ein im Vorfeld recht aufwändig geprüftes Wahlsystem relativ kurzfristig vor der Wahl doch nicht zugelassen.

Die zugehörige Darstellung der Wahlstift-Kritiker des Chaos Computer Club liest sich ganz anders und verweist vor allem auf die zweifelhafte Praxis im vorgeschriebenen Zulassungsverfahren im Vorfeld der Bürgerschaftswahl: „Beim Hamburger Wähler und allen unabhängigen Beobachtern wurde zwar der Eindruck erweckt, dass in den Schnupperwahllokalen und auf den Vorbereitungsveranstaltungen der echte Wahlstift zum Einsatz kommt. Nach den Angaben des DWS-Herstellers Diagram Halbach war dies jedoch nicht der Fall. Die vom CCC durchgeführten technischen Untersuchungen zur Angreifbarkeit des Systems wurden aufgrund der Äußerungen des Wahlleiters und unter der Prämisse durchgeführt, dass das vorgeführte System dem tatsächlich zur Verwendung vorgesehenen System entspricht. Sollte die Mitteilung des Herstellers des DWS über die Nichtübereinstimmung zutreffen, wurden Wähler und Öffentlichkeit absichtlich getäuscht.“

Neben der berechtigten Anzweiflung des Verfahrens nennt der CCC auch einige Möglichkeiten zur Manipulation, etwa das Einschleusen eines „Trojanischen Wahlstiftes“, der nicht nur zur fehlerhaften Stimmabgabe, sondern auch zur Platzierung von Schadsoftware in den Auslesegeräten genutzt werden könne. Im Vergleich zu den in Hessen eingesetzten Wahlcomputern der Firma Nedap, die die Funktionalitäten von Stimmzettel, Wahlstift und Urne übernehmen, öffnet demnach auch die Medialisierung des Schreibgerätes Einfallstore für Manipulationen und wirkt unmittelbar auf elementare Grundlagen der Wahl ein (Transparenz, Überprüfbarkeit).

Aber was sagen die „Beschuldigten“? Immerhin geht es doch um den Ruf einer möglicherweise zukunftsträchtigen Produkt-Innovation. Die Anbieterfirma Diagramm Halbach weist die Anschuldigungen des CCC auf ihrer Wahlstift-Website allerdings zurück:

„Es wurde kein einziger begründeter Hinweis auf konkrete Sicherheitslücken im Digitalen Wahlstift-System DWS gegeben, lediglich vage Vermutungen geäußert und in Unkenntnis der etablierten Sicherheitsmerkmale Behauptungen aufgestellt. Die in Oktober und November 2007 publizierten Behauptungen z.B. des Chaos Computer Clubs e.V. (CCC), er habe den Wahlstift gehackt und Stimmzettel erfolgreich manipuliert sind unwahr. Mit fingierten Informationen wurden Öffentlichkeit und Entscheidungsträger beeinflusst.“

Es scheint, als stehe Aussage gegen Aussage. Eine knifflige Situation, die letztlich im politischen Verfahrensweg „gelöst“ wurde. In Folge einer Anhörung im Verfassungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft am 9. November, in der CCC-Experten deutliche Vorbehalte gegen die Sicherheit des Wahlstifts äußerten, haben sich die Vorsitzenden der drei Bürgerschaftsfraktionen CDU, SPD und GAL am 15. November schließlich darauf geeinigt, dass der digitale Wahlstift bei den Wahlen im Februar 2008 entgegen aller Planungen doch nicht zum Einsatz kommen wird. In einer weiteren Sitzung des Verfassungssausschusses am 16. November wurde darüber hinaus entschieden, den digitalen Wahlstift nicht einmal als zusätzliche Hilfe einzusetzen.

Der Hamburger Fall des digitalen Wahlstiftes zeigt somit überdeutlich, dass die Modernisierung von Wahlen nicht nur sicherheitstechnische und politikwissenschaftliche Aspekte adressiert, sondern auch in ökonomischer Perspektive relevant ist. An dieser Stelle findet die möglicherweise gravierendste Veränderung des Spielfeldes statt, auf dem in Zukunft über die Organisation von Wahlen entschieden wird. Darin eingebunden sind nämlich nicht mehr nur Behörden (Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltungen, technische Prüfstellen etc.) oder gewählte Vertreter des politischen Systems (Parlamente, Parteien, Politiker), sondern in zunehmendem Maße auch Akteure der Zivilgesellschaft (technikaffine Bürgervereinigungen wie der CCC) und Wirtschaftsunernehmen (Hersteller und Distributoren von Wahltechnologie).

Und dass hier nicht so ohne weiteres „für die Sache der guten alten, weitgehend technologiefreien Demokratie“ entschieden werden kann, zeigt eine letzte Volte der Geschichte um den digitalen Wahlstift – die Kosten, die der öffentlichen Hand nun durch die Entscheidung für ein auf herkömmlichem Weg organisiertes Wahlverfahren entstehen.

Schon im vergangenen Jahr hatte die Stadt Hamburg bereits reichlich in das Wahlstift-System investiert: nach einem Bericht des Abendblatts waren 12.000 digitale Wahlstifte für ca. 2,4 Mio. Euro, ebenso die benötigte Hardware für die Stimmauszählung für ca. 2,1 Mio. Euro gekauft worden.

Die nun erforderliche Analogisierung der Wahl machte die Rekrutierung zusätzlicher Wahlhelfer erforderlich (insgesamt werden etwa 15.500 im Einsatz sein), hierzu wurde die Aufwandsentschädigung für diese demokratienahe Dienstleistung erhöht. Außerdem muss eine aufwändige Logistik zur Auszählung der Papierstimmzettel realisiert werden, die nun ganz analoge Hilfsmittel wie „Hamburger Wahlurnen“ (aka Mülleimer in grau-weiß mit rotem Deckel), Wahlkabinen aus „fester Pappe“ oder 20 Kilometer Bindfaden (zur Befestigung der Kugelschreiber in den Wahlurnen).

Das alles ist nicht ganz billig: allein die Erhöhung der Aufwandsentschädigung für die Wahlhelfer verschlingt ca. 5,75 Millionen Euro. Die Nutzung zusätzlicher Auszählungsstandorte kostet 2,18 Millionen Euro, erhöhte Sicherungsanforderungen (analog) stehen mit etwa 1 Million Euro zu Buche (Pressemeldung der Stadt Hamburg vom 22. Januar).

Bevor nun eine Diskussion losbrechen könnte, ob dieses Geld gut investiert ist oder nicht soll Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Stellenwert von Wahlen zitiert werden: „Ja, das Wählen ist hin und wieder ganz schön schwer. Aber das ist der „Preis“ für die Freiheit. Und die ist kostbar.“

Schlagwörter: , , , , , ,

8 Antworten to “Hamburg wählt (nicht digital)”

  1. Hamburg wählt (analog) « Internet und Politik Says:

    […] unregelmäßige Sitzungstermine, Hörerschein möglich « Obama, Pepsi & Co. Hamburg wählt (nicht digital) […]

  2. Sven Borkert Says:

    Der Wahlstift lässt sich laut Tests zwar halbwegs einfach manipulieren, aber ich halte ihn grundsätzlich für vertretbar, da man ja im Zweifel immer noch die Wahlzettel auszählen kann. Dort sind ja wie gehabt die Kreuze zu erkennen, die der Wähler gemacht hat. Probleme bei der Bedienung sollte es hier auch nicht geben, denn der Vorgang des Wählens ändert sich nicht wesentlich. Im Zweifel kann man immer die Stimmzettel nachzählen, das sollte man auch stichprobenartig machen.

    Das Einzige was mich am Wahlstift aufregt ist, dass schon häufiger zu lesen war, dass bei Differenzen zwischen manueller Auszählung und Ergebnis des Wahlstiftes, immer das Ergebnis des Stiftes zählen soll. Das löst bei mir absolutes Unverständnis aus, dann nur am manuell ausgezählten Stimmzettel ist der unverfälschte Wählerwille erkennbar.

    Grüsse,

    Sven Borkert

  3. Christian H. Says:

    Ist der Wahlstift denn schon fertig zertifiziert, so dass man ihn, wenn man den wollte, einsetzen könnte?

    Hamburg hat Glück gehabt, dass es rechtzeitig die Reißleine gezogen hat und nicht auf das immer noch offene Prüfergebnis gewartet hat. Denn das wäre wirklich teuer gekommen.

  4. Matthias K. Says:

    Wenn ich diesen Text hier lese frage ich mich, wie sie ihr Verhalten gegenüber der ihnen obliegenden (Zivil-)Verantwortung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen wollen.

    Darin eingebunden sind nämlich nicht mehr nur Behörden […] oder gewählte Vertreter des politischen Systems […] sondern in zunehmendem Maße auch Akteure der Zivilgesellschaft (technikaffine Bürgervereinigungen wie der CCC) und Wirtschaftsunernehmen (Hersteller und Distributoren von Wahltechnologie).

    Was bitte ich schlecht daran, wenn das Volk bei den wichtigsten Mechanismen der Demokratie mitredet und entscheidet??? Der Begriff „Zivilgesellschaft“ ist ja wohl schonmal schönstes Neusprech eines e-Voting-Lobbyisten.

    Wir alle sind EINE Gesellschaft, den „Teile & Herrsche“-Begriff „Zivilgeselschaft“ lehne ich bereits ab. Da unsere Politiker (und sie Herr Bieber) ja offenbar weit, weit entfernt sind von technikaffin und technisches Verständnis soweit reicht, dass gefragt werden muss „Browser, … was war denn jetzt nochmal ein Browser?“, ist offensichtlich, dass sich die Gesellschaft hier kümmern und einmischen muss, was der CCC tut.

    Wenn die Manipulation der Demokratie durch Wahlmanipulation so Leuten wie Ihnen überlassen wird, dann entstehen erst die wahren Kosten des Wahlgeräteeinsatzes:

    – Loslösung der Gesellschaft von der Identität mit dem eigenen Land und seiner Führung
    – Entfremdung von den sozialen gesellschaftlichen Werten und dem Konsens zur Demokratie insgesamt

    Mit dem Resultat von Gewalt, Aufstand, Krawalle und Krieg. Wer das Volk nicht mehr repräsentiert – und darauf läuft Wahlmanipulation hinaus – der legt es auf Krieg an. So einfach ist das. Was ein Krieg kostet, im Vergleich zu ein paar grauen Mülleimern mit rotem Deckel ist wohl kaum zu vergleichen.

    Sie verfolgen ganz offenbar wirtschaftliche Interessen mit ihren Statements und biedern sich den Entscheidungsträgern der Politik als Berater an. Das wäre ja okay, wenn es nicht auf Kosten der Demokratie wäre. Sie Herr Bieber betrachte ich als einen Helfershelfer der Aushöhlung von Demokratie.

  5. Wahlcomputer-Urteil: Online-Wahlen rücken damit in weite Ferne — CARTA Says:

    […] Drittes Mo­dell ist der Einsatz von Sys­te­men, bei de­nen Wähler die Stimm­zet­tel wie gewohnt kenn­zeichnen, dies aber mit einem elek­tronischen Stift tun, der die ge­trof­fene Wahl­ent­scheidung gleich­zei­tig elek­tro­nisch erfasst. Dass die Rich­ter das Mo­dell des „digitalen Wahlstiftes“ als Bei­spiel für eine ver­fas­sungs­ge­mäße Aus­ge­stal­tung der Ver­wen­dung von Wahl­tech­nik ansehen, über­rascht. Schließ­lich planten die Verantwortlichen der Stadt Ham­burg, einen ebensolchen „Wahl­stift“ bei der Bür­ger­schafts­wahl im Fe­bru­ar 2008 einzusetzen. Der Chaos Com­puter Club de­mon­strier­te damals, wie Wahlfälscher den Wahlvorgang ma­nipulieren könn­ten. Eine An­hö­rung von Fachleuten im Ver­fas­sungs­­aus­schuss der Hamburger Bürgerschaft am 09. No­vember 2007, in der deut­li­che Vorbehalte gegen die Sicherheit des Wahlstifts ge­äu­ßert wurden, brachte damals die Entscheidung, den „di­gitalen Wahlstift“ nicht ein­zusetzen. Auch die Durchführung eines bis dato geplanten Feld­ver­suches war end­gül­tig vom Tisch. Ei­n erneuter Anlauf im Jahr 2012 wurde als nicht realistisch ange­se­hen. Zum Zeitpunkt der Absage waren bereits große Summen in das System in­ves­tiert worden: Neben 12.000 Wahl­stiften für rund 2,4 Mil­li­o­nen Eu­ro hatte die Stadt Ham­burg bereits Note­books und weiteres Zu­behör für rund 2,1 Mil­li­o­nen Eu­ro ge­kauft. Nach dem Urteil ist klar: Aus verfassungsrechtlicher Sicht hätte dem Einsatz des „digitalen Wahlstiftes“ nichts im Wege gestanden (mehr hier). […]

  6. In eigener Sache: Hamburg « Internet und Politik Says:

    […] meinem Vortrag werde ich zunächst die schöne schwierige Geschichte des digitalen Wahlstifts rekapitulieren, die 2008 die Schwierigkeiten der Wahl-Modernisierung in Deutschland vor Augen […]

  7. Köln wählt (oder auch nicht) | Internet und Politik Says:

    […] mit Hilfe eines Digitalen Wahlstifts durchzuführen, geriet die Hansestadt in einen Strudel des Scheiterns, der am Ende weit kostspieliger war, als die Neuansatzung der Kölner OB-Wahl. Auch hier wurde […]

  8. Fehlerhafte Stimmzettel bei der OB-Wahl: Das Problem ist nicht das Personal, sondern die Struktur der Wahlorganisation › Regierungsforschung Says:

    […] die Bürgerschaftswahl mit einem Digitalen Wahlstift durchzuführen, geriet die Hansestadt in einen Strudel des Scheiterns der am Ende weit kostspieliger war, als es die Neuansetzung der Kölner OB-Wahl sein wird (erste […]

Hinterlasse einen Kommentar